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„Stiller Tag“ in Borsdorf: 17.11.2019 – Volkstrauertag

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Seit 1952 wird der Volkstrauertag in Deutschland immer am zweiten Sonntag vor dem ersten Adventswochenende begangen und gehört zu den sogenannten stillen Tagen. Im Laufe der Jahre wurde das Erinnern und Gedenken, das immer auch ein Mahnen ist, erweitert: Nicht nur der Kriegstoten, auch der Opfer von Gewaltherrschaft und Rassismus wird gedacht. Dazu finden am Volkstrauertag überall in Deutschland Gottesdienste und Gedenkveranstaltungen statt, so auch in unserem Ort. Ich hatte die Ehre, in diesem Jahr eine Rede am Kriegerdenkmal in Borsdorf zu halten:

Birgit Kaden

Sehr geehrte Damen und Herren,
2019 jährt sich der Beginn des zweiten Weltkrieges zum 80. Mal. Dieser Krieg, dessen Zahl der Opfer man nur schätzen kann, weil sie so unvorstellbar groß ist. Es ist die Rede von über 60 Millionen Menschen die ihr Leben verloren. Aber Opfer waren auch all die Vertriebenen und Traumatisierten, die irgendwie mit dem Erlebten weiterleben und neu anfangen mussten. Er begann mit dem Überfall Russlands und der deutschen Wehrmacht auf unser Nachbarland Polen Ziel war es, Deutschland zur Weltherrschaft zu führen.
Unter diesem Schwerpunkt findet auch der diesjährige Volkstrauertag statt, zu dem ich heute die Ehre habe, Ihnen meine Gedanken mitzuteilen.
Lassen Sie mich kurz zurückgehen in das Jahr 1922. In diesem Jahr fand die erste offizielle Feierstunde im Deutschen Reichstag in Berlin statt. Der damalige Reichstagspräsident Paul Löbe warb in einer national und international vielbeachteten Rede für Verständigung und Versöhnung und rief eindringlich zur Abkehr vom Hass auf. Der Volkstrauertag wurde dann 1926 zum Gedenken der Opfer von Krieg und Gewalt ausgerufen. Er soll uns in jedem Jahr dazu dienen, diese Opfer niemals zu vergessen. Er soll uns Mahnung sein, dass sich solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit und solch unsägliches Leid nicht wiederholen dürfen. Er soll und muss uns daran erinnern Toleranz zu leben und Rassismus zu bekämpfen, ganz im Sinne des Ausspruchs: Wehret den Anfängen!
Aber haben wir das getan?
Wir schreiben den 02. Juni 2019. Der Tag beginnt mit der Nachricht, dass der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke auf der Terrasse seines Hauses erschossen aufgefunden wurde. Die Ermittlungen ergaben, dass der CDU Politiker durch einen Kopfschuss von einem Rassisten regelrecht hingerichtet wurde. Der Grund: Er setzte sich für geflüchtete Menschen ein.
August 2019. Petra Köpping, die sächsische Integrationsministerin erhält kurz vor einer öffentlichen Lesung Morddrohungen. Aus der Presse ist zu entnehmen, sie wäre kein Einzelfall….
09.Oktober 2019. Ein schwer bewaffneter Mann versucht vergeblich in Halle eine Synagoge zu stürmen, um dort ein Massaker an Juden zu verüben. In der Synagoge befinden sich ca. 60 Gläubige, die den höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, den Versöhnungstag, begehen. Er scheitert zum Glück an einem Tor und erschießt daraufhin vollkommen frustriert zwei Unbeteiligte Menschen, die zur falschen Zeit, am falschen Ort seinen Weg kreuzten.
Was ging Ihnen in dem Moment durch den Kopf, als Sie diese Nachricht erreichte? Ich dachte zuerst an meine Kinder, die in Leipzig unterwegs waren, denn Halle ist sehr nah! Dann vermutete ich, der Attentäter wäre vielleicht ein Moslem, weil von einem terroristischen Angriff die Rede war. Aber als die Nachrichten sich konkreter darstellten und es schließlich zur Gewissheit wurde, dass es sich bei dem Täter um einen Deutschen mit Hass auf Juden handelte, begann ich mich zu schämen. Ich schämte mich für diesen jungen Mann, für seine Erziehung, für unsere gesellschaftliche Unfähigkeit, solch eine Tragödie zu verhindern. Wer hatte an welcher Stelle versagt? Was hat einen solchen Hass in ihm erzeugt? Und ich schämte mich auch für mich selbst, denn warum traute ich, die ich mich für tolerant halte, eine solche Tat zuerst Fremden zu?
Es ist leider nicht nur ein mulmiges Gefühl, das sich 30 Jahre nach dem Freudentaumel um den Fall der Mauer angesichts solcher Gewalttaten breitmacht. Es sind Fassungslosigkeit, Traurigkeit und Wut!
Mit der Wiedervereinigung und einem damit entschärften Konfliktherd zwischen Ost und West keimte die Hoffnung auf, ein neues Friedenskapitel in der Weltgeschichte schreiben zu können. Die Vision von Friedensaktivisten „Schwerter zu Pflugscharen“ schien plötzlich ein klein wenig realistischer. ADAM KRZEMIŃSKI, polnischer Journalist und Publizist schreibt dazu in einem Redevorschlag zum heutigen Volkstrauertag:
„Für die Ostmitteleuropäer schien ein Jahrzehnt lang die Welt in Ordnung zu sein, auch wenn auf die „friedliche Revolution“ im früheren Ostblock die jugoslawischen Nachfolgekriege mit neuem Hass und Morden folgten.“
In meiner Vorbereitung auf den heutigen Tag sind mir die folgenden Schlagwörter immer wieder begegnet: Vergessen! Verantwortung! Versöhnung! Verständigung! Erinnern! Schuld! denen ich mich abschließend widmen möchte.
Vergessen: Angesichts der immer komplexer werdenden Problemlagen unserer Welt dürfen wir niemandem glauben, der uns scheinbar einfache Lösungen präsentiert. Wir müssen Sachverhalte hinterfragen, überprüfen und eine eigene Meinung haben, uns mit anderen Meinungen auseinandersetzen und einander zuhören. Wir müssen aufstehen, gegen Hass und Gewalt egal von wem diese ausgehen. Gewalt darf niemals in Gut und Böse eingeteilt werden, denn sie ist immer schlecht!
Verantwortung: Jede Gesellschaft ist nur so gut, wie die Menschen die in ihr leben und sie gestalten. Da stellt sich auch die Frage: Wie gehen wir miteinander um. Darf man einem jungen Familienvater, der in unserer Gemeinde für den Gemeinderat kandidiert, Kot in seinen Briefkasten werfen, weil er für die AfD steht? Ich meine nein, das darf nicht unsere Antwort auf diese Partei sein. In der sachlichen und ehrlichen Auseinandersetzung müssen wir uns miteinander verständigen. Jeder hat die Aufgabe, die Grundwerte der Demokratie mit Leben zu füllen. Schwächere und Minderheiten müssen geschützt und der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt werden. Wir sind verantwortlich dafür, unsere Kinder und Enkelkinder für diese Themen zu sensibilisieren. Von uns Erwachsenen lernen sie Empathie, Respekt und Toleranz.
Versöhnung und Verständigung sind zwei Begriffe, die eng miteinander verbunden sind. Wie sollte sonst ein friedliches Miteinander möglich sein. Stellen Sie sich vor, die Juden oder die Polen wären nicht bereit gewesen, sich mit den Deutschen zu verständigen und sich mit ihnen zu versöhnen. Man darf niemals vergessen, dass die Polen, die Slawen in der Rassenideologie keine Mitmenschen für das Führervolk der nordisch-germanischen Deutschen, sondern ein Sklavenvolk waren. Juden galten als Schädlinge von Geburt an, die zu vernichten seien.
Ausdruck von Versöhnung und Verständigung ist auch die gemeinsame Kriegsgräberpflege von Polen und Deutschland, Russland und der Ukraine. Dadurch wurde es möglich, in der Nachwendezeit viele Opfer des Krieges zu suchen, zu bergen und ihnen auf Sammelfriedhöfen die letzte Ruhe zu geben.
Erinnern: Erinnerungen gehören zu unserer individuellen und nationalen Identität. Erinnerung ist Bildungsarbeit! So gibt es beispielsweise seit 2005 auf der Insel Usedom die Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte (JBS) Golm die ganzjährig für Jugend- und Erwachsenengruppen sowie für Individualreisende geöffnet. Die Kriegsgräberstätte Golm und die nahe deutsch- polnische Grenze sind Ausgangspunkte für friedenspädagogische Angebote des Volksbundes. Interkulturelle Begegnungen regen eine wechselseitige Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und der des Nachbarlandes an. Die JBS Golm vermittelt Zeitgeschichte durch moderne Methoden, um Diskussionen über nationale sowie europäische Erinnerungskulturen zu ermöglichen.
Die Gewalttaten von Halle und Kassel und die neue politisch motivierte Bereitschaft anderen Menschen Gewalt anzutun, zeigt deutlich, dass nur das Erinnern vor dem Vergessen schützt. Die Familie meiner Mutter wurde aus dem damaligen Ostpreußen vertrieben. Sie erlebte eine Kindheit voller Leid. Sie erzählte mir, welche Demütigungen sie als Flüchtlingskind erdulden musste. Diese Berichte binden mich emotional und beeinflussen mein Handeln und mein politisches Denken.
Schuld: Betreiben wir Deutschen einen Schuldkult? Dieses Wort verdient es als Unwort des Jahrhunderts gekürt zu werden. Nein schuldig am zweiten Weltkrieg fühle ich mich nicht mehr. Aber ich und wir alle wären schuld, wenn der schwärzeste Teil unserer Geschichte in Vergessenheit geraten würde.
Wenn wir heute den Opfern von Kriegen, Gewalt, Terror, Vertreibung und Rassismus eines schuldig sind, dann ist dies wohl die Auseinandersetzung mit der Bedeutung dieser Worte und damit auch immer wieder mit unserer Geschichte.

Rede von Birgit Kaden am 17.11.2019

Olaf Bendrat verlaß das Totengedenken:

Olaf Bendrat

TOTENGEDENKEN

Wir denken heute an die Opfer von  Gewalt und Krieg, an Kinder, Frauen und Männer aller Völker.
Wir gedenken der Soldaten, die in den  Weltkriegen starben, der Menschen, die  durch Kriegshandlungen oder danach in  Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren.
Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden, Teil einer Minderheit waren oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.
Wir gedenken derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft geleistet haben, und derer, die den Tod fanden,  weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten.
Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Bundeswehrsoldaten und anderen Einsatzkräfte, die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren.
Wir gedenken heute auch derer, die bei uns durch Hass und Gewalt gegen Fremde und Schwache Opfer geworden sind. Wir trauern mit allen, die Leid tragen um die Toten, und teilen ihren Schmerz.
Aber unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und  Völkern, und unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter den Menschen zu Hause und in der ganzen Welt.

Fotos: Sandra Jostes